Heimatkunde

November 1989. 24-Stunden Fernsehen gab es in Deutschland noch nicht wirklich, und so war dann die Liveberichterstattung aus Berlin irgendwann nach Mitternacht auch einmal vorbei. Glauben konnte man die Bilder von den Menschen auf der Mauer und in den Trabbis auf dem Ku'damm eh nicht. Das war doch alles Utopie. Was darauf folgte ist selbst schon längst Geschichte, vor allem die schnelle Wandlung der Utopie zur Dystopie. Was erlaubten sich die ganzen Neandertaler aus der ehemaligen Zone? Westgeschäfte mit den 100 DM Begrüßungsgeld leer kaufen, Mahlborro, Vidjeorekorder und Golf GTI plötzlich nicht mehr nur Statussymbole des kleinen Mannes aus dem Westen. Unverschämter Wechselkurs sei dank, die hatten ihr Spielgeld ja auf dem Dachboden gehortet. Arbeiten mußten die da drüben doch noch nie im Leben. Geld und Arbeit, da versteht der Wessi keinen Spaß. Das Fernsehen tat sein übriges, um all die Vorurteile über den Ossi an sich in den Köpfen des Wessis zu bestätigen und noch einen draufzusetzen. Und überhaupt, wann reist die Verwandtschaft aus Schulzendorf endlich wieder ab? Die saufen unsere Kellerbar leer und lassen sich noch nicht einmal aus Dankbarkeit belehren. 17 Jahre nach der Wiedervereinigung begibt sich Martin Sonneborn auf Wanderschaft durch das Berliner Umland. 250 Kilometer brandenburgische Provinz, 250 Kilometer auf der Suche nach postrealsozialistischem Leben. Ein deutscher Borat unter umgekehrten Vorzeichen könnte man meinen. 250 Kilometer Mutanten, Tiere, Sensationen. Doch dazu läßt sich Sonneborn gar nicht erst verleiten, Heimatkunde hat nur formale Ähnlichkeiten zu Sasha Cohens satirischer Anarcho-Comedy.

Die Brücke hat ihre besten Tage schon hinter sich. Lose liegen die vermoderten Balken auf den metallenen Querstreben. Ein Bild aus einem Abenteuerfilm, Indiana Jones vielleicht. Tatsächlich, da hinten tut sich was, ein rauchender Nudist. Freundlich ist er, zu Hause in seinem Garten findet er keine Ruhe, da glotzen die Nachbarn, und das Nacktsonnenbad ist ja doch noch das Gesündeste, da nicht nur Arme und Beine braun werden. Die Idylle inmitten der Natur findet nicht lange statt, schnell kommen wir mit Sonneborn in einer Neubausiedlung an. Hier wohnen vor allem Wessis, ebenfalls freundlich zum Wanderer, der sich auf der Suche nach der einzigen Ostfamilie in diesem Planquadrat von Eigenheimfreiheit mit einheitlichem Friesengiebel befindet. Hier eine Familie aus dem Osten? Oh Gott, da kann ich ihnen nicht helfen. Probleme hat es mit den Ostlern in der Vergangenheit gegeben, die haben den Westler nicht verstanden. Der Witz entwickelt sich in Heimatkunde ganz von allein. Sonneborn muß nichts weiter dazutun, als Bilder, Gespräche unkommentiert stehen zu lassen, die noch nicht einmal der Provokation bedürfen. Der Ossi wohnt in 6 Familienwohnhäusern, in deren Mitte der aus Bayern zugereiste Bürgermeister vier Parkbänke samt Hundeklo und einen als Holocaustmahnmal getarnten Grabstein mit einer an SED-Funktionäre erinnernden Ernsthaftigkeit als Wohltat für die Bürger seines Städtchens einweiht. Spielen ist an dieser Begegnungsstätte verboten. Weiter geht es über Kleingartenplanschbecken in der Einflugschneise des Schönefelders Flughafens, jugendlichen Autotunern an der nächtlichen Shelltankstelle, natürlich der Marzahner Platte, einem eingezäunten Asylantenheim, bis zum verfallenen Friedhof. Überall kommt Sonneborn mit den Menschen ins Gespräch, auch wenn einige erst reserviert auf den sofort als Wessi enttarnten Wanderer reagieren. So erfahren wir zwar oberflächlich betrachtet doch nur das, was wir schon längst aus dem Fernsehen wissen oder uns in all den Jahren zurecht gelegt haben, doch im Kern vermittelt Heimatkunde in seiner letzten Konsequenz ein erstaunliches Bild. Denn Heimatkunde würde wohl auch im Umland Hamburgs, Frankfurts oder jedem anderem Ballungszentrums Deutschlands funktionieren. Die Ressentiments gegenüber den anderen, die Trostlosigkeit der Provinz , die Spinner, Harmlosen, Vergessenen und Normalos sind dann doch austauschbar wie die Reportagen über den Wilden Osten im sonntäglichen Spiegel TV auf RTL. China, so erfahren wir am Ende aus erster Hand eines Touristen aus dem Reich der Mitte, wird uns in der Zukunft eh platt machen, und zwar Ost- und Westdeutschland. Braucht es noch einen weiteren Beweis für Deutschlands längst vollzogene Wiedervereinigung?

8/10 Punkte

6 Kommentare:

C.H. hat gesagt…

Ich glaube den muss ich sehen.

tumulder hat gesagt…

Kannst du sogar schon am 17. November nachholen. Irgendwann nach Mitternacht auf dem NDR. Früher ist wohl zu gefährlich.^^

JMK hat gesagt…

gute "Doku", auch wenn ich deiner Konklsuion nicht ganz zustimme.

tumulder hat gesagt…

Naja, als Doku würde ich den Film nicht bezeichnen wollen. Das ist immer noch Satire durch und durch.

JMK hat gesagt…

deshalb auch die Gänsefüsschen:-)

tumulder hat gesagt…

Komm schon, die hast du gerade erst reingemogelt.^^

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