Das schwarze Buch

In Robocop wird der Polizist Murphy zu Beginn des Filmes bis zur Unkenntlichkeit von Maschinengewehren zerschossen, bis nur noch ein Haufen Knochen und Fleischbrei auf dem Boden der alten Industrieanlage liegen bleibt. In Interviews auf die explizite Form der Gewaltdarstellung in seinen Filmen angesprochen, erklärt Paul Verhoeven diesen Umstand mit seinen Erfahrungen während der deutschen Besatzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg. Immer wieder. Er sei damals als 6 oder 7 jähriger Junge durch die Straßen gegangen und habe Tod und Gewalt in ihren schrecklichsten Formen gesehen. Er könne Gewalt nicht anders als drastisch darstellen, da Gewalt nun einmal verstörend ist. Verhoeven drückt sich in den Interviews jedoch wesentlicher nüchterner aus. Er ist halt nüchterner als man es aufgrund seiner fiktionalen Filme während seiner Zeit in Hollywood annehmen könnte. In Das Schwarze Buch, seinem ersten europäischen Film seit Flesh & Blood, erzählt er die Geschichte der Jüdin Rachel Stein, die als Ellis de Vries in den niederländischen Widerstand geht und sich während ihrer Spitzeltätigkeit im Hauptquartier der SS in Hauptmann Müntze verliebt.

Obwohl Verhoevens Geschichte, die laut dem Vorspann auf wahren Begebenheiten beruht, von Anfang an über unglaubliche seelische und körperliche Qualen erzählt, darf erst nach über einer Stunde die erste Träne fließen. Da sterben die Männer des Widerstands im Kugelhagel der Nazis. Nicht dass nicht schon vorher Menschen unvorhergesehen im Kugelhagel der Nazis sterben würden - Rachels ganze Familie wird gleich zu Beginn während eines Fluchtversuchs nach Belgien auf der Maas von einem Schnellboot der SS aufgebracht und stirbt im Maschinengewehrfeuer -, doch diesmal ist der Grund ihres Todes in den eigenen Reihen zu suchen. Offensichtlich kollaboriert ein Mitglied des Widerstands mit den Deutschen und hat die Aktion an sie verraten. Der Verrat aus den eigenen Reihen darf beweint werden, die Verbrechen der Besatzer werden ausgehalten. Auch eine Form von Widerstand. Wie eigentlich Verhoevens ganzer Film, der die Verbrechen der letzten Tage deutscher Besatzung der Niederlande in einem burlesken Agentenfilm verarbeitet, ohne jedoch die Ausmaße der Katastrophe zu verharmlosen. Ganz im Gegenteil, gerade durch den ständigen Stilbruch erhalten sie erst ihre verstörende Wirkung und damit eine Aussagekraft über ihre Abscheulichkeit hinaus. Wenn gerade noch gelacht werden durfte, über den deutschen Bürokratiewahn, und Verhoeven im Gegenzug ganz nebenbei die blutigen Fußsohlen und zermatschten Gesichter der von der SS verhörten Widerständler zeigt. Seht her, trotz all des Leids, trotz all der Verbrechen, trotz all der Verzweiflung haben wir das Lachen nicht verlernt.

Doch Verhoevens Film geht noch einen Schritt weiter. Der Genozid ist in Das Schwarze Buch nicht wie so oft geschildert ein einzig rassistisch motiviertes und begangenes Verbrechen der Nationalsozialisten, er geschieht in Verhoevens Erzählung aus vor allem materiellen Gründen, an denen auch die niederländischen Nicht-Nazis partizipieren. Es wird nicht wenige geben, denen angesichts Verhoevens ambivalenter Sichtweise auf die Geschichte und ihrer Figuren die Schamesröte ins Gesichts steigen wird. Die Provokationen Verhoevens sind nur oberflächlich in der Nacktheit seiner Hauptdarstellerin und ihrem blondierten Scharmhaar zu finden, sie sitzen viel tiefer unter der Oberfläche. Vielleicht gegen Ende seines Films am deutlichsten erkennbar, wenn der Mob die angeblichen Kollaborteure durch die Straßen treibt und sie ohne nachzufragen mit Scheiße übergießt. Für Rachel ist der Krieg noch lange nicht vorbei.

8,5/10 Punkte

5 Kommentare:

C.H. hat gesagt…

Sehr schön! Die 8,5-Punkte Bewertung unterschreibe ich sofort, und auch ansonsten kann ich der Besprechung zustimmen. Ich wusste gar nicht, bzw. habe mich nicht informiert, dass Verhoeven die Besatzung damals als Kind miterlebt hat (hätte man sich aber, gerade nach dem Film, auch denken können). Jedenfalls fand ich den Film - abseits der Tatsache das er unterhaltsam, spannend, toll bebildert und inszeniert, sowie gespielt ist - vor allem aus den Gründen interessant, die sich in deinem letzten Absatz finden lassen.

Die Ambivalenz mit der Verhoven die holländische Gesellschaft unter der deutschen Besetzung zeigt, fand ich in der Tat bemerkenswert. Das geht ja schon gleich zu Beginn "gut" los, als Rachel, obgleich sie versteckt wird, von ihren Helfern mit unterschwelligen Antisemitismus konfrontiert wird, und überhaupt nur etwas zu essen bekommen, wenn das mit dem Bibelziaten auch schön hinhaut. Und in dem Ton geht es ja weiter: Kollaboration, Verrat aus Profitgier und die unrechtmäßige Rache an den "Moffenmeiden", und sonstigen (angeblichen) Verrätern. Da wühlt Verhoeven in der Tat ziemlich tief in den Wundern kollektiver (Nicht)Erinnerungen, indem er den eigentlichen Antagonisten ("Die Deutschen") schon fast eine Nebenrolle spielen lässt.

Stark für mich auch das verhältnismäßig ruhige Ende des Films, das aber in letztlicher Konsequenz umso eindringlicher ist. Wie Rachel da am See sitzt und mit den lakonischen Worten "Eigentlich müssten wir den Sarg jetzt aufmachen" ihren eigenen Verzweiflungsschrei kurz vorher (Hört das denn niemals auf?") ad absurdum führt, und Verhoeven so die unheilvolle Spirale der Gewalt nicht enden lässt, ist schon ganz großes Kino.

Stefan hat gesagt…

Schöner Text, aber korrigiere das "t" bei "Genozit" doch bitte durch ein "d" ... XD

Kaiser_Soze hat gesagt…

Ich habe den schon ewig auf meinem Wunschzettel. Hatte bisher immer die Befürchtung, Verhoeven könne mit so einem Stoff nicht umgehen.

tumulder hat gesagt…

@stefan
Daaaaanke.^^

@c.h.
Jepp, der Film ist wirklich ganz großes Kino. Ich weiß nicht, ob Verhoeven ihn genau so auch in den USA hätte verwirklichen können. Geplant hat er ihn ja schon länger, ich glaube seit den 80ern. Dass sich eine ganze Menge Kritiker auch über ihn aufgeregt haben, zeugt für mich schon von seiner Brisanz, die er unter dem Mantel des Unterhaltungsfilms in sich birgt. Es darf in mancher Vorstellung halt nicht sein, dass z.B. ein SS Hauptmann nett ist. Verhoevens Realitätssinn ist einfach beeindruckend. Auch wenn er Rachel am Ende gleich den nächsten Krieg, der wie wir wissen noch viel länger andauern wird, aufbürdet.

@kaiser_soze
Gucken, wird dir gefallen.

Theodor hat gesagt…

Es wird ja richtig spannend...Den Film muss ich ja unbednigt mal schauen. Danke für den tollen Tipp.

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