Roberto Savianos Tatsachenroman Gomorrha muß mehr brisantes Material enthalten als man sich vorstellen kann. Morddrohungen seitens der neapolitanischen Mafiaorganisation Camorra lassen Saviano nur noch unter Polizeischutz an geheimen Orten leben. 80% der Geschäfte Neapels sollen unter der Kontrolle der Camorra stehen, von 1979 bis 2005 gehen mindestens 3650 Morde auf ihre Rechnung. Roberto Savianos Buch ist seit seinem Erscheinen nicht mehr aus den Bestsellerlisten wegzudenken und wurde nun von Matteo Garrone verfilmt.
Gomorrha ist kein romantischer Mafiafilm, der das Leben der Gangster als gefährliches Abenteuer schildert oder von ehrbaren Verbrechern erzählt. Im Fokus stehen fünf von einander unabhängige Handlungsstränge. Die Figuren hat Garrone so geschickt ausgewählt, daß sie zum einen die einzelnen Generationen und zum anderen die verschiedenen Geschäftsfelder des organisierten Verbrechens abdecken. Von Toto dem dreizehnjährigen Jungen, der mit seiner Mutter allein über die Runden kommen muß und von einer Karriere als Gangster träumt bis hinauf zu Franco, der auf der Ebene des gehobenen Managements Giftmüllentsorgunggeschäfte organisiert. Ohne Exposition wird der Zuschauer Zeuge ihres Lebens, keine erklärenden Worte, ihre Charakterzeichnung, ihre Motivation ergibt sich aus den Dialogen und den teils verstörenden Bildern, die Garrone virtuos fast ausschließlich mit der Handkamera filmt. Die heruntergekommenen authentischen Drehorte in den Armenvierteln Neapels und das öde Umland wirken fast postapokalyptisch oder zumindest nicht von diesem Kontinent. Und es ist gerade diese Armut die, die Camorra zu ihrem Vorteil nutzt, aus deren Pool von jungen Männern mit aussichtsloser Zukunft sie ihre Mitglieder rekrutiert. Wenn man als einfacher Drogenkurier locker das zehnfache verdient wie ein Pizzabäcker fällt die Entscheidung leichter eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen. Zumal wenn man allerorts mit den Geschäften des organisierten Verbrechens konfrontiert wird. Wenn der Freund, der Nachbar, der Vater selbst diesen Weg gewählt hat. Vielleicht aus der Not oder halt aus der Naivität heraus wie der dreizehnjährige Toto. Das ist es was Garrones Film vermittelt, nicht die Geschäfte stehen im Vordergrund sondern die Selbstverständlichkeit in der die Camorra das Leben der Neapolitaner konterminiert. Sie ist nicht nur Krebsgeschwür im gesellschaftlichen Konstrukt, sie hat schon längst den Körper mit ihren Metastasen durchdrungen. Kein Körperteil, der nicht befallen ist. In so einem Umfeld ist kein Wachstum mehr möglich, die Dinge stehen still, entwickeln sich zurück.
Pasquale ist ein begnadeter Schneider, der mit seinem Können vielleicht anderorts erfolgreicher Starmodeschöpfer hätte werden können. Doch in Neapel bleibt ihm nichts anderes übrig als für einen Hungerlohn Haute Couture für seinen ebenfalls von der Camorra abhängigen Chef zu fälschen. Als er die Möglichkeit nutzt nebenbei für die offensichtlich ebenfalls nicht legal arbeiteten Chinesen Schulungen zu geben wird der Konkurrenz stärkende Zusatzverdienst prompt mit einem Attentat der Camorra sanktioniert. Pasquale überlebt nur mit Glück. Die offene Gewalt findet in Gomorrha ausschließlich überfallartig statt, keine Chance ihr zu entkommen, keine Chance auf Gegenwehr. Entweder man macht mit, befolgt die Befehle oder man stirbt. Auf eigene Rechnung arbeitet niemand in Gomorrha und wer es versucht wird dafür bitter bezahlen. Das ist nichts neues im Mafiafilm, doch so unaufgeregt, kühl und auf verklärende Details verzichtend ist es bisher noch nie im Kino zu sehen gewesen. Garrone zeigt die Auswirkung des organisierten Verbrechens in Italien ohne dramatisch inszenierte Emotionen, ohne großartige Heldentaten, er zeigt den Alltag und so gleicht Gomorrha mehr einer Dokumentation als einem Spielfilm. Die unterschwellige Angst wird in der letzten halben Stunde zu einer einzigen Depression, kein Lichtblick am Horizont. Das was die Camorra Ehre und Respekt nennt ist in Wahrheit die Angst vor ihrer brutalen und menschenverachtenden Vorgehensweise. Wenn irgendwo zu lesen ist, daß die Bevölkerung aufgrund ihrer Armut die Mafia akzeptiert kann dies nur ein Mißverständnis des Autors sein. Es gibt nur Menschen die Angst vor der Mafia haben und Menschen die sich ihr trotz ihrer Angst entgegenstellen. Das ist die Botschaft, die Garrones Film vermittelt, der seine Suspense, seinen Horror aus seiner Nüchternheit bezieht. Wer eine durchgehende Handlung erwartet, alles ins kleinste Detail erklärt haben will sollte einen großen Bogen um dieses Meisterwerk machen.
10/10 Punkte
9 Kommentare:
Ich schaffe es leider wohl nicht mehr ins Kino. So muss ich auf die DVD warten. Aber sehen möchte ich den definitiv. Du bist ja nicht der Einzige, der den sehr Stark sieht.
Ja in jedem Fall solltest Du das. Der läuft ja tatsächlich nur in Programmkinos. Ich denke die DVD erscheint spätestens Ende Januar obwohl es anscheinend noch keine Ankündigung gibt. Garrone wählt oftmals sehr lange Einstellungen, die mehr aussagen als es ein Dialog könnte. Ich bin sehr beeindruckt.
10 von 10...ziemlich stark. Bin mir sicher, der Film ist nicht schlecht, glaub aber auch nicht, dass er so gut ist. Aber deine Haltung zum Film bestätigt immerhin die Arbeit des Regisseurs - und das ist allemal lobenswert.
Also das mit den "nur in Programmkinos" stimmt nicht unbedingt, zumindest nicht bei mir, da zeigt (neben drei Programm/Arthousekinos) auch ein Multiplex den Film (aber natürlich nicht aus altruistitschen Gründen). Für mich stellt sich eher die Frage: synchronisiert oder OmU? Wie hast du den gesehen? 136 Minuten auf Untertitel zu gucken macht bestimmt nicht nur Spaß …
10/10? Das ist in der Region von "City of God" oder ähnlichem. So gut?
@therudi
Ob der Film letztendlich eine so hohe Bewertung verdient ist natürlich auch eine Frage des persönlichen Geschmacks. Allein die Szene in der Franco der Giftmüllentsorger die aufgrund eines Unfalls streikenden LKW Fahrer einfach durch ein paar Kinder die auch LKW fahren können ersetzt hat soviel Aussagekraft. Das ist fast schon einzigartig.
@probek
Naja, er läuft hier zumindest in keinem einzigen Multiplex was ich sehr schade finde. Ich hätte ihn wirklich gerne auf einer größeren Leinwand gesehen. Ich habe die synchronisierte Fassung gesehen, die sehr ordentlich ist. Dennoch würde ich ihn in jedem Fall auch noch mal gerne im OmU sehen, da ich glaube, daß er dadurch noch einmal an Atmosphäre und Authentizität gewinnt.
Mit City of God läßt er sich sehr schwer vergleichen. In jedem Fall liegt sein Unterhaltungswert auf einer anderen Ebene. Ich glaube der Film läßt nicht ernsthaft einen einzigen Schmunzler zu. Selbst in den skurrilen Szenen, die auch er bietet. Das Bild auf dem Plakat ist so eine. Die beiden auf dem Plakat haben ihre Waffen von der Mafia gestohlen, ballern damit in der Gegend rum und spielen Tony Montana. So eine Szene hätte in City of God zum Lachen ermuntert. Hier ist es eher eine surrealistische Szene, die an einen Kriegsfilm erinnert. Ich glaube Du verstehst wie ich das meine. Der Film ist in meinen Augen vielleicht der erste Film, der sich dem Thema Mafia auf einer ernsthaften nicht fiktionalen Ebene annimmt. Von daher würde ich behaupten, ja in diesem Aspekt spielt er sogar in einer anderen Liga.
Allein die Szene in der Franco der Giftmüllentsorger die aufgrund eines Unfalls streikenden LKW Fahrer einfach durch ein paar Kinder die auch LKW fahren können ersetzt hat soviel Aussagekraft. Das ist fast schon einzigartig.
Wenn ich mich recht entsinne, gab's das vorher schon bei THE SOPRANOS.
Das ist gut möglich, aber nicht in diesem Zusammenhang. Und mit den Sopranos hat Gomorrha ungefähr so viel zu tun wie die Tour de France mit Doping freien Sport. Ich habe ja geschrieben, daß Gomorrha nichts neues über die Mafia und ihre Geschäfte erzählt. Es ist die Art der Inszenierung, die Ernsthaftigkeit, die so beeindruckt. Und wenn man nur einmal mehr darüber nachdenkt ob man das Plagiat auf dem Trödel nun mitnimmt oder nicht. Dann hat der Film schon mehr erreicht als man erwarten kann.
Das ist gut möglich, aber nicht in diesem Zusammenhang.
Ich meinte damit, daß es nicht im gleichen Kontext geschah wie in Gomorrha. Der Witz an der Geschichte, Saviano schildert in seinem Buch davon wie die jungen Soldaten der Camorra ihre Vorbilder in den amerikanischen Filmen suchen. Wie Hollywood das echte organisierte Verbrechen beeinflußt. Und wenn der Film dies auch noch reflektiert, dann macht es ihn noch beeindruckender.
Ach der basiert auf 'nem Buch? Dann wird Rudi den eh nicht über 5/10 reviewen.
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