Die Rache ist eines der beliebtesten Motive der dramatischen Erzählung. Kaum ein bedeutender Dichter oder Schrifsteller, dessen Werke nicht von Vergeltung handeln. Natürlich erzählt auch Hollywood in unzähligen Filmen von der Rache und adaptiert dabei das antike und alttestamentarische Rechtsprinzip in die heutige Zeit. Von Dirty Harry bis Kill Bill. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Unumstritten geht das Racheprinzip jedoch nicht mehr mit unserem modernen Rechtssystem überein und spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung gilt die Rache als ebenso verächtlich wie das Unrecht, das ihr als Grund dient. Eine handvoll Regisseure versuchte in den 70ern und frühen 80ern die Niedertracht und selbstzerstörerische Kraft, die der blutigen Vergeltung innewohnt mit den Mitteln des Exploitation- und Terrorkinos zu verdeutlichen. Eindrucksvoll von Wes Craven in The last House on the Left inszeniert, in dem die Rache nehmenden Eltern selbst zu animalischen Mordmaschinen mutieren und am Ende vor der seelischen Apokalypse stehen. Doch scheiterten die meisten Regisseure an ihren inszenatorischen Fähigkeiten und so stürzten sich die Kritiker vor allem auf die Tabu brechende Darstellung der Gewalt und räumten der teils expressionistischen Kritik an der Selbstjustiz lediglich eine Nebenrolle ohne größere Bedeutung in ihren desaströsen Befunden ein.
Gaspar Noé möchte dieser Gefahr offenbar nicht aus dem Weg gehen. Gleich zu Anfang schildert er in drastischen Bildern den Akt der Rache, läßt Pierre mit dem Feuerlöscher zu den malträtierenden Sound Thomas Bengalters den Kopf des vermeintlichen Vergewaltigers zermatschen. Zermatschen im wörtlichen Sinn, denn Pierre hört nicht eher auf auf dem am Boden liegenden einzuschlagen bis von seinem Kopf nur noch eine breiige Masse übrig bleibt. Überschreitet die Gewalt im Zusammenspiel mit der Musik schon die Grenze des erträglichen wird das Unbehagen des Zuschauers noch durch die wütende umherirrende Kamera verstärkt. Diejenigen, die hier den Ort der Vorführung verlassen ist kein Vorwurf zu machen. Mit ähnlich drastischen Bildern eröffnete damals David Lynch sein Wild at Heart, doch war Sailors brutaler Gewaltausbruch offen als Akt der Notwehr zu erkennen. Marcus und Pierre hingegen scheinen gezielt nach ihrem Opfer gesucht zu haben. Der mildernde Umstand des Affektes kann die Tat der beiden nicht entschuldigen. Umso verstörender wirkt das Geschehen auf der Leinwand für den Zuschauer, doch wer seinen Ekel gegenüber dem gezeigten aushält wird schon bald über das Motiv des gerade gesehenen Mordes aufgeklärt. Wenn auch nicht in der erwarteten Art und Weise.
Noé erzählt seine Geschichte in chronologisch umgekehrter Reihenfolge als lese man die Kapitel eines Buches beginnend mit dem Epilog und endend mit dem Prolog. So erfährt der Zuschauer erst nach und nach, daß der Gewaltausbruch Pierres ein Akt der Selbstjustiz ist. Immer begleitet von der nie ruhenden Kamera stellt sich schnell heraus, daß es Marcus ist dessen Freundin Alex in einer Fußgängerunterführung vergewaltigt und anschließend ins Koma geschlagen wurde. Ob sie überlebt wird der Zuschauer nie erfahren. Die Vergewaltigung von Alex ist der zentrale Punkt der Geschehnisse und wird in einer einzigen fast zehnminütigen Einstellung von Noé so realistisch wie nur irgend möglich inszeniert. Die Intensität dieser Szene ist fast schon unbeschreiblich, ja eigentlich mit abscheulich, abartig, unaushaltbar noch am ehesten erklärt. Mit fortschreitender Dauer wird sich der Zuschauer seiner Verdammnis zur Passivität bewußt, wandelt sich sein anfänglicher Ekel zu Wut. Zu gerne würde er dem Treiben auf der Leinwand ein Ende bereiten. Wie perfide Noé mit den Gefühlen des Betrachters spielt wird vor allem im kurzen Auftauchen eines Passanten am Ende des Tunnels deutlich. Er bleibt kurz stehen, sieht was wenige Meter weit von ihm entfernt geschieht und geht dann einfach weiter ohne einzuschreiten. Ja, dem Typen würde man am liebsten gleich mit verprügeln. Unendlich erscheint die Szene, die den Anfang des Filmes bzw. das Ende seiner Geschichte plötzlich als halb so wild erscheinen läßt. Da hat Noé den Zuschauer schon manipuliert. So wie es ihm zuvor in Menschenfeind gelang, befindet sich der Zuschauer auf einer emotionalen Ebene, die ihm erlaubt, den zuvor isoliert und als verachtenswert betrachteten Akt der Rache Verständnis entgegen zu bringen. Die Tatsache, daß Marcus und Pierre den falschen Mann töteten spielt nur eine untergeordnete Rolle, läßt die Handlung lediglich als Tragödie erscheinen. Wahrscheinlich noch nicht einmal als das. Denn Noé spielt auch die Homophobie des Zuschauers aus wenn er La Tiene, den Vergewaltiger als Transenzuhälter darstellt, dessen Höhle ein Schwulen Club mit mehreren Darkrooms in denen auch ausgiebig gleichgeschlechtlicher Sado-Maso Sex praktiziert wird visualisiert. Wenn er das Rectum als bedrohlichen Hort ähnlich eines Monsternestes beschreibt ist das nichts weiter als eine weitere Manipulation des Zuschauers. Welch ein Gegensatz zum Ende des Films. Dort zeigt er das frisch verliebte Paar Marcus und Alex morgens im Bett noch nicht wissend welch ein dramatisches Ende die Nacht bringen wird. Eine wunderbare Szene mit der sich die Mehrheit der Zuschauer identifizieren kann. Verstärkt noch durch den Prolog der Geschichte in der Alex süßes Geheimnis offenbart wird und der die Wirkung eines Happy Endes für sich einnehmen möchte und dies auch in gewisser Weise schafft. Denn zuvor haben wir Marcus auf der Party gesehen, wie er maßlos Kokain und Alkohol in sich hinein schaufelt, mit anderen Frauen rumspielt und Alex überhaupt nicht mehr so viel Beachtung schenkt wie man es zum Ende des Filmes wieder glauben möchte. Wie er sie so weit verärgert, daß sie die Party allein verläßt und in ihr Unglück schreitet. Marcus wird in diesen Szenen ganz subtil eine Mitschuld an der Vergewaltigung von Alex attestiert, es war sozusagen seine Maßlosigkeit, die sie erst ermöglichte. Hätte er Einsicht gezeigt, nicht den Macho markiert und Alex nach Hause begleitet, ihr wäre wahrscheinlich der Übergriff erspart geblieben, es wäre kein unbeteiligter Mensch auf grausamste Art und Weise getötet worden.
Das ist es worauf Noé letztendlich hinaus möchte, weshalb er die chronologisch umgekehrte Erzählung für seinen Film wählt, warum er ihm den Titel Irreversible (Unumkehrbar) gibt. Die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen, das Geschehen ist nicht rückgängig zu machen. Zeit zerstört alles. Jedes Handeln hat Konsequenzen. Für dem im Epilog über sein inzestuöses Verhältnis zu seiner Tochter resümierenden Pferdemetzger, bekannt aus Noés Carne und Menschenfeind, ebenso wie für Alex, für das Opfer der Selbstjustiz und auch für Marcus und Pierre, die von der Polizei verhaftet wurden und für die jetzt vermutlich die zu erwartende Haftstrafe das kleinere Übel gegenüber ihrer eigenen Schuld ist. Das ist es was Noé selbst zu seinem Film sagt. Da ist natürlich die Frage erlaubt warum er für seine banale Botschaft eine reißerische Rape and Revenge Geschichte bemüht, die ja durch ihre Intensität von seinem angestrebten Plot nur ablenken kann. Ob er nicht einfach nur provozieren wollte um einen medienwirksamen Skandal herauf zu beschwören. Nur schwerlich kann man Noé von diesem Verdacht frei sprechen. Doch auf der anderen Seite ist sein erster Film inhaltlich und emotional nicht minder provokativer Natur und auch Noés schöpferische Zurückhaltung nach dem Skandal um Irreversible deutet darauf hin, daß der Vorwurf der Spekulation ihm zumindest nicht unberührt gelassen hat. Dabei sollte ihm doch eigentlich klar sein, daß sich das Feuilleton wie die Hyänen auf die beiden unglaublich grauenvollen Szenen seines Filmes stürzen wird und gar nicht erst dem, zugegeben auf den ersten Blick nur spärlich vorhandenen Subtext, weitere Beachtung schenkt.
Es ist etwas anderes was mich an Irreversible stört. Zwar ist jede Szene für sich genommen formal, schauspielerisch und auch in ihrer Wirkung außerordentlich. Ist der Film gemessen an seiner emotionalen Einbindung des Betrachters in der Nachtbetrachtung mehr als nur gelungen, zumindest wird über seinen Inhalt gesprochen, so kann er doch die Aufmerksamkeit des Zuschauers nur schwerlich über den Akt der Vergewaltigung Alex hinaus tragen. Hier erweist sich die umgekehrte Erzählung als Stolperstein für Noés eigentliche Botschaft. Die Spannungskurve des Filmes bricht mit einem mal zusammen. Nur mit Mühe verfolgt der Zuschauer die Geschehnisse vor der grauenvollen Tat im Tunnel. Wie soll man nach dem gerade gesehenen überhaupt noch Interesse für die für seine eigentliche Intention so wichtige Exposition aufbringen. Spätestens auf der U-Bahnfahrt zur Party quält Noé den Zuschauer mit belanglosem für die Geschichte nicht mehr relevanten Dialogen, so realistisch und natürlich sie auch wirken mögen. Sicherlich Pierres Rolle bekommt eine andere Bedeutung, doch hätte Noé das Verhältnis zwischen ihm und Alex auch in einem Nebensatz in einer vorherigen Szene verdeutlichen können und eigentlich stellt sie auch nichts anderes als einen weiteren tragischen Aspekt dar. Das vor dem Verbrechen die Welt für Alex und Marcus in normalen Bahnen verläuft, davon geht der Zuschauer aus. Das ist ja sozusagen die Grundvoraussetzung für Noés Alptraum und seiner anvisierten Botschaft, die sich spätestens in den Szenen auf der Party erschließt. Völlig überflüßig sind die letzten vielleicht zwanzig Minuten des Filmes und nur mit dem dogmatischen Festhalten Noés an seiner Idee einen Film komplett rückwärts erzählen zu wollen zu erklären. Noé bestraft förmlich den Zuschauer für dessen Geduld, die er aufbringen muß um die Übelkeit erregende Kamera, Soundkulisse und Gewalt der ersten Hälfte des Filmes zu überstehen mit Belanglosem. Die Wirkung, die Emotionalität der ersten Hälfte verpufft in der Langeweile einer schon tausendmal gesehenen Beziehungskiste.
6/10 Punkte
Naruto: Ein Ninja erobert die Welt [Special]
vor 9 Stunden
8 Kommentare:
Viel mehr als Identifikationsfragen und emotionale Bindung hat mich gestört, dass dieser Drecksfilm alles ausschlachtet, was er scheinkritisch vorheuchelt, und zudem von einer ekelhaften Homophobie geprägt ist.
Da kann man Dir überhaupt nicht widersprechen. Aber tatsächlich erfüllt die Homophobie einen gewissen Zweck. Noé spielt im Rectum übrigens selbst einen Homosexuellen. Wahrscheinlich kam ihm seine Homohölle selbst zu demagogisch vor. So nach dem Motto:"Hey, schwul sein ist nichts schlimmes. Aber Pierre und Marcus sehen diesen Laden halt mit diesen Augen!" Ja, da tritt Noé wirklich in ein Fettnäpfchen nach dem anderen.
Um ehrlich zu sein, Kunst respektive Stilmittel hin oder her, ging mir die 30-Minütige Einführung derbe aufn Sack. Boah, das ist ja kaum auszuhalten.
Die soll ja auch auf den Sack gehen, so habe ich es zumindest aufgefasst.
Noch schlimmer.
Ich mag den Film. Noé rockt!
Ich mag ihn auch sehr! :p
So langsam sollte es eigentlich klar sein, dass Misanthropie Teil des Plans im belgisch-französischen Kinos ist. Und gerade "Irréversible" ist überdeutlich und straightforward Aussage: Menschliches Leben ist wertloser Dreck. Period. Das war's, mehr will uns der Film gar nicht sagen. Natürlich ist es für den geistig und sozial gesunden Zuschauer schwierig, diese Aussage zu akzeptieren. Aber genau das wollte Noë ganz sicher auch vermeiden.
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