Wie fließend doch Grenzen sein können, die Katalogisierer werden sich an Orphan die Köpfe zerbrechen. Drama, Horror, Thriller, Mystery … Vielleicht die größte Stärke Jaume Caullet-Serras aktuellen Films, der sich genüßlich aus den Fleischtöpfen der beunruhigenden Genres bedient und den Zuschauer bis zum Finale an der Nase herumführt. Formal ist das schon einmal eine große Leistung, wenn er sich da ganz wie Esther verhält, dieses für das Ehepaar Coleman anfangs so liebenswerte Waisenkind aus Russland. Für den Zuschauer aber doch auf dem ersten Blick verdächtig in seinem für ein Kind so widersprüchlichen Verhalten. Nach außen hin in der skurril biederen Sonntagsschulkleidung zu erkennen, die jedoch weit weniger Grusel hervorrufen möchte als Esthers distinguierte Bildungsbürgerlichkeit. Kann es deutlichere Warnzeichen geben? Aus der Gefährlichkeit Esthers macht Orphan – Das Waisenkind keinen Hehl, und selbst die Auflösung des großen Geheimnisses ist dann in Wirklichkeit keine große Überraschung, mehr Bestätigung der eigenen Paranoia. Nein, Paranoia ist in diesem Film das falsche Wort, denn so offensichtlich wie Esther zuvor verführt, intrigiert, mordet und bedroht, das kommt selten vor im Genre und wirkt doch geradezu neu nach all den ganzen Mind-Fuckern des letzten Jahrzehnts. So darf man sich dann doch ganz und gar auf den Zerfall der Familie Coleman konzentrieren, deren Fehler der Vergangenheit als Esthers Brandbeschleuniger dienen. Ob Kates Alkoholsucht beinahe den Tod ihrer Tochter forderte oder Johns Liason mit der Nachbarin die Ehe der Colemans aufs Spiel setzte ist egal. Wichtig sind nur die schlecht verheilten inneren Verletzungen der Familie, die doch eigentlich durch die Adoption Esthers therapiert werden sollten, jedoch ausgerechnet durch sie wieder aufbrechen und zu einer Verschlechterung des Krankheitsbildes führen. All die guten Vorsätze des Ehepaares wieder einander zu vertrauen lösen sich innerhalb weniger Filmminuten in Lippenbekenntnisse auf. Auch auf der Ebene des Dramas steht Caullet-Serras Film für eine Geradlinigkeit, die im Kontext zum aktuellem Genrekino absolut erfrischend wirkt und einmal mehr beweist, daß das Prädikat Oldschool als alles andere als muffig aufgefaßt werden darf. Nach Sam Raimis gelungener Sommerüberraschung Drag me to Hell vielleicht sogar als neue Moderne des Genres. Man darf gespannt sein.
8/10 Punkte
2 Kommentare:
Ich habe das zwar bei mir nicht erwähnt, stimme dir aber absolut zu, der Drama-Anteil hat mich besonders überrascht - Horrorfilme, die gleichzeitig auch nahe gehen (bis zu einem gewissen Punkt), gibt es viel zu wenige. Eine echte Stärke des Films.
Unbedingt. Ich will mehr davon.^^
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