Vor dem Hauptfilm gibt Terry Gilliam noch schnell eine Erklärung ab. Eine Erklärung wohlgemerkt. Kein übliches Grußwort, wie es bei den zahlreichen Sonder Editionen, Director Cuts und Jubiläums Ausgaben mittlerweile Usus ist. Eine Erklärung. O.K., Texttafeln, die den folgenden Film eindeutig im Reich der Fantasie verorten, vor verstörenden Bildern warnen oder die Neugier durch den Verweis auf die wahre Begebenheit anheizen, die ist man gewohnt. Aber ein Regisseur, der sich vor Beginn seines Filmes hinstellt und Anweisungen gibt, wie sein Werk anzuschauen ist, das ist eher selten.
Jeliza-Rose ist ein achtjähriges Mädchen, und schon in den ersten Einstellungen des Films wird klar, daß ihr Leben in alles anderen als normalen Bahnen verläuft. Ihre Eltern sind Junkies der bedauernswertesten Sorte, die nicht nur ihr eigenes Leben mit Schmackes in die Tonne werfen, sondern auch mit ungebremsten Enthusiasmus das ihres Kindes vor die Wand fahren werden. Jeliza-Rose muß sich selbst vor dem unausweichlichen Frontal-Crash schützen und flüchtet sicherheitshalber in ihre Fantasiewelt. Nach dem Goldenen Schuß ihrer Mutter verkrümelt sich Vater Noah mit seiner Tochter auf's Land ins verrottete Landhaus seiner eigenen Mutter, die natürlich selbst schon längst das Zeitliche gesegnet hat. Puh, das Leben ist anstrengend, Zeit für einen kurzen Abstecher ins Land der Träume, Jeliza-Rose bereitet wie gewohnt das Besteck. Doch diesmal wird ihr Vater nicht aus dem Kurzurlaub zurückkehren, was die Achtjährige jedoch nicht weiter zur Kenntnis nehmen möchte. Weiterhin berichtet sie ihm von ihren Erlebnissen, von ihren neuen Freunden aus der Nachbarschaft, die sich selbst als sehr sonderbar herausstellen. Dell, Noahs Jugendliebe, ist sehr entzückt über die Rückkehr ihres einstigen Liebhabers, und wer tote Tiere präparieren kann, dem gelingt das auch mit einem toten Junkie. Zwischen ihrem geistig behinderten Bruder Dickens und Jeliza-Rose entwickelt sich eine Freundschaft, die sich kurz vor dem Finale des Films in kindliche Liebe verwandeln wird. Schließlich teilen sich Dickens und Jeliza-Rose nicht nur ein ähnliches Schicksal, sie leben auch in der selben Welt.
Man müsse sich von seiner herkömmlichen Betrachtungsweise eines Filmes verabschieden, so Terry Gilliams im Vorwort zu Tideland. Der Film ist komplett aus der Perspektive Jeliza-Roses inszeniert. Viele werden ihn mögen, manche hassen, und wiederum andere werden vielleicht gar nichts mit ihm anfangen können. Darauf kommt es Gilliam jedoch nicht an. Wichtig sei ihm, daß über das Gesehene nachgedacht und gesprochen werde.
Das sind nicht gerade die Worte eines Regisseurs, der von seinem Werk überzeugt scheint. Ja, und tatsächlich scheint mit Tideland vieles nicht zu stimmen. Nicht daß Tideland nicht ohne weiteres als Terry Gilliam Film zu erkennen wäre, daß er nicht all die in seinen vorherigen Filmen so geliebten subtilen Elemente wie die schrägen Einstellungen, Weitwinkel-Aufnahmen und schrillen Typen mitbringen würde, die seine gesellschaftssatirischen Stoffe bisher so einzigartig machten. Sie trotz ernster Themen so vergnüglich gestallteten. Sie sind alle vorhanden, jedoch genau sie sind es, die Tideland einfach nicht funktionieren lassen wollen. Sie wollen einfach nicht zum ernsten Thema Tidelands passen. Egal ob sein Film nicht eine Sekunde die Perspektive des die Realität verdrängenden Kindes verlassen möchte. Die Verwahrlosung und Mißhandlung von Kindern will sich, auch wenn das vielleicht in literarischer Form funktionieren kann, einfach nicht mit Gilliams satirisch humoristisches Traumkorsett pressen lassen. Es nimmt diesem Verbrechen zuviel seines Schreckens. Ohne Frage, es ist in seinem Film jederzeit deutlich zu erkennen, was der kleinen Jeliza-Rose von den Erwaschsenen angetan wurde, die psychische und körperliche Mißhandlung des Mädchens und ihre Verdrängungsmechanismen sind offensichtlich. Doch geht Gilliams im Drehbuch als auch in der Inszenierung zu sanft, zu inkonsequent mit den Gegensätzlichkeiten der realen Welt und Jeliza-Roses Wahrnehmung um. Der Schrecken will sich nicht als Schrecken entpuppen. Gilliam verpaßt es Realität und Traum direkt miteinander zu verknüpfen. So wirkt die Handlung seines Filmes nicht nur streckenweise mehr als zerfahren. Zerfahrener als die Gedanken und Gefühle eines Kindes vielleicht sein könnten. Es fehlt einfach der emotionale Zugang zu den Figuren. Vor allem zur Protagonistin, deren Darstellung zu allem Überfluß auch noch unter den überambitioniert wirkenden Schauspielkünsten Jodelle Ferlands leidet. Seltsam gefühllos kommt Tideland daher, viel zu sehr auf seine Fantasterein als auf das Schicksal seiner Hauptdarstellerin konzentriert. Künstlich mit Gilliams gewohnten Skurrilitäten vollgestopft, doch will man diesmal nicht über sie lachen. Erstens ist das Thema des Films einfach nicht für sie geschaffen, zweitens wollen sie die Geschichte nicht weiterführen. Szenen, so schön und handwerklich gut sie auch sein mögen, fühlen sich völlig überflüssig an. Anstatt den Stoff zu verdichten, verwässern sie ihn nur. Und so aufgesetzt die Handlung zwischen Alice im Wunderland und Texas Chainsaw Massacre gibt sich dann auch das Ende, das zwischen gewolltem Kitsch und unglaublicher Überforderung des Regisseurs pendelt.
Nein, so sehr ich mich auch anstrenge irgendetwas gutes in Tideland zu entdecken, ich schaffe es einfach nicht. Einmal von Gilliams Mut abgesehen, sich überhaupt so eines schweren Stoffes anzunehmen, der nicht nur im Kino zu den gesellschaftlichen Tabus zu zählen ist. Gilliam ist einfach ein zu guter Mensch, als daß er sich eindringlich eines so zermürbenden und zerstörerischen Themas wie das der Kindesmißhandlung adäquat annehmen könnte. Er schafft es einfach nicht Jeliza-Rose und damit auch dem Zuschauer wirkliches Leid zuzufügen. Leid, daß es einem ermöglicht die Traumwelt des Mädchens selbst zu betreten. Und das wäre doch hier so wichtig, um den Kern der Sache nahe zu kommen. All die anderen Mißgeschicke dieses Filmes seien an dieser Stelle unerwähnt, da sie eh nur noch als Marginalien gelten dürften.
2/10 Punkte
19 Kommentare:
Ok, ich muss ja gestehen, dass mich der Veriss jetzt erst recht neugierig auf den Film gemacht hat. Gesehen habe ich den nämlich noch nicht, aber vielleicht entdecke ich dann ja bei "Tideland" noch etwas beim Sehen... ;-)
Wohl der Film, der nun schon am längsten ungesehen bei mir im Regal steht. Kann mich einfach nicht dazu aufraffen ihn mir anzusehen. Wird vielleicht auch der erste Film, den ich ungesehen wieder verkaufe. Dabei liebe ich Gilliams Werk.
Nach dem Lesen deines Verrißes erklärt sich mir durchaus, weshalb Gilliam so ein Vorwort eingebaut hat. Er scheint sehr wohl erkannt zu haben, dass es Zuschauer, wie dich, gibt, die mit dem Film nichts anfangen können oder ihn hassen - was bei dir ja irgendwie beides der Fall zu sein scheint. Nun mag sich sagen, dass es dafür nicht extra ein Vorwort gebraucht hätte, weil es ja zu jedem Film Menschen gibt, die ihn nicht abkönnen, aber nach Vorwort und Kritik erscheint mir TIDELAND nun ein eher experimenteller Film wie SOUTHLAND TALES, INLAND EMPIRE oder LIMITS OF CONTROL zu sein, die eben nicht jedem gefallen. Letztlich einfach dumm gelaufen für dich, dass du zwei Stunden deines Lebens damit verschwendet hast.
@flo
Weder hasse ich den Film, noch kann ich nichts mit ihm anfangen, und schon gar nicht handelt es sich um einen experimentellen Film.
Whatever.
Der Film lag nicht länger als ne dreiviertel Stunde in meinem Player. Das sagt doch wohl alles^^
@kaiser
Ja, und genau nach einer dreiviertel Stunde hätte schon das Finale kommen können, und nichts hätte sich geändert.;)
Oha, die Kritik ist ja mal ein ganz böses Faul Marke tumulder! Nee, nee, die geht ja wirklich gar nicht! ;-(
;-)
8 Points ohne wenn und aber! :-)
@ Flo
Wie recht Du hast!
@hankey
Hättest du aufgepaßt, hättest du erkannt, daß Flo hier über einen Film palavert, den er selbst nicht gesehen hat.;)
Hättest du aufgepaßt, hättest du erkannt, daß Flo hier über einen Film palavert, den er selbst nicht gesehen hat.;)
Höhö..- Das kannst du ja selber ganz gut (wie wir wahrscheinlich Alle)... ;-)
@c.h.
Kann ich das?
Naja, so spontan meine ich mich z. B. an eine ziemlich intensive "Vorleser"-Debatte bei mir zu erinnern, ohne das du das Buch/den Film gelesen/gesehen hättest. Und bei "Transformers 2" hast du ja auch überall mitgeredet. Und ich vermute mal, dass eher die Hölle zufriert, als das du dir den freiwillig ansiehst... ;-) Aber ich sage ja, wir können das wohl alle ziemlich gut... :D
Ging es denn da direkt um den Film, oder um etwas ganz anderes?;)
Nun, zumindest beim "Vorleser" ging es ganz konkret um Figurenzeichnungen und Konstellationen, also "ja"... Aber ich will das jetzt hier auch nicht ausarten lassen, zumal ich "Tideland" nicht kenne, hehe... :)
Ich meine da eher etwas über deine Argumentation geschrieben zu haben. Aber ich gebe ja schon Ruhe.^^
@ tumi
Dann hat C.T. anscheinend einfach die wunderbare Gabe, Filme die er noch nicht gesehen hat korrekt einzuschätzen! ;-)
@hankey
Erst alles durchlesen, dann Senf dazugeben.;)
Ich bin auch arg überrascht von diesem Verriss, damit setze ich TIDELAND recht weit nach oben auf meiner To-Watch-List (deren Abarbeiten noch mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Pflege meines Blogs^^).
@rajko
Von Gilliam darf man mehr erwarten, da kann eine negative Kritik definitiv mal ein wenig härter ausfallen. Und immer daran denken, der Film ist komplett aus der Perspektive eines 8 jährigen Mädchens gedreht.;)
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